Bildungsagenda NS-Unrecht
Verachtet – verfolgt – vergessen: Die Opfer der NS-Gesundheitspolitik –
Lernen für heute und morgen!
Seit Mitte des Jahres 2024 gibt es am Lernort Herzogsägmühle ein neues Bildungsprojekt mit dem Namen "Verachtet – verfolgt – vergessen: Die Opfer der NS-Gesundheitspolitik – Lernen für heute und morgen!".
Dieses Projekt widmet sich einem für heute noch immer relevanten Kapitel der deutschen Geschichte: der Verfolgung und Stigmatisierung von Menschen, die aufgrund angeblicher "erbbiologischer und sozialer Minderwertigkeit" nicht in das völkische Leitbild von Gesundheits- und Wohlfahrtwesens der Nationalsozialisten passten. Diese wurden selektiert, entrechtet und durch systematische Maßnahmen in ihrer Existenz bedroht. Verantwortlich für diese Praktiken, die mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen einhergingen, waren nicht nur staatliche Akteure, sondern auch Institutionen der Medizin, Fürsorge und Kriminalbiologie, die diese ideologisch getriebenen Selektionen mitgetragen und in vielen Fällen federführend umgesetzt haben.
Einer dieser Akteure war der Bayerische Landesverband für Wander- und Heimatdienst, der ab 1934 an die Gesundheitsabteilung des bayerischen Innenministeriums angegliedert war. Als Träger von verschiedenen Zwangsfürsorge-Einrichtungen – wozu auch der Zentralwanderhof Herzogsägmühle in Peiting gehörte – setzten die dortigen Verantwortlichen nicht nur die völkischen Ideale um, sondern führten in vielen Fällen eigenständig Maßnahmen des "Ausmerzens" durch oder kollaborierten mit Sicherheitspolizei und Strafjustiz.
Schon vor 1933 wurden in Justiz, Wohlfahrt und Medizin Debatten über den Umgang mit Menschen geführt, die sich nicht in die "normalen" Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Gesellschaft einfügen konnten. Besonders arme, gesellschaftliche Außenseiter, die die Normen der Mehrheitsgesellschaft nicht erfüllten, standen im Fokus der Disziplinierung. Die Nationalsozialisten knüpften bei der Stigmatisierung und Verfolgung dieser, an bereits bestehenden rassistische Denkmuster, Werte und Moralvorstellungen an. Sowohl der anthropologische Rassismus, der Menschen nach physischen Merkmalen kategorisierte, als auch der eugenische Rassismus, der auf der Idee einer "Verbesserung" der menschlichen Rasse basierte, sowie antisemitische Motive, bildeten die Grundlage der Selektion und Verfolgung von Menschen als "erbbiologisch und sozial minderwertig". Dabei rückte das Wohlergehen der bedürftigen Einzelperson immer weiter in den Hintergrund und wurde durch massenhafte Zwangsmaßnahmen ersetzt.
Das Projekt am Lernort Herzogsägmühle greift die historischen Entwicklungen auf, um die Biografien der Verfolgten, aber auch das Handeln der Täter:innen, die in Pflege, Verwaltung und anderen Bereichen involviert waren, aufzuarbeiten. Dieses differenzierte Herangehen verspricht tiefere Einblicke in die Komplexität von staatlich organisierter Diskriminierung und Verantwortung während der Zeit des Nationalsozialismus. Aber auch die Kontinuität der Denkweisen in den Fürsorgeeinrichtungen in der Nachkriegszeit und die anhaltende Stigmatisierung werden zum Thema des Projektes gemacht. Dabei ist es wichtig, die Opfer nicht mit der Zuschreibung "asozial" zu stigmatisieren. Denn die Kategorie "Asozial" bezeichnet nur das Urteil der angeblichen sozialen Schädlichkeit als Kontinuum von vor 1933 und danach – bis in die Jetztzeit. Der Begriff "asozial" war und ist bis heute problematisch. Er reduziert die Menschen auf ein fremdgetroffenes Urteil und bleibt letztlich an ihnen kleben.
Unser interdisziplinären Projektteam entwickelt für und mit Vertreter:innen des Sozial- und Gesundheitswesens sowie mit Angehörigengruppen digitale und analoge Lernmodule und Bildungskonzepte. Die Lernmodule sollen dabei helfen, den historischen Kontext auf verständliche Weise zugänglich zu machen. Durch die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte der Verfolgten und Täter:innen, bietet das Projekt die Möglichkeit, über heutiges berufliches Handeln nachzudenken und ethische Fragen im Berufsalltag zu beleuchten. Die Geschichte zeigt uns, wie wichtig es ist, wachsam gegenüber Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung zu sein. Eine wissenschaftliche Begleitung erfolgt durch die historische Expertise von Prof. Dr. Annette Eberle.
Ein weiteres Ziel des Projekts in seiner zweijährigen Laufzeit (bis Ende 2025) ist es, auch in der Gegenwart noch existierende, stigmatisierende Denkmuster zu identifizieren und ihnen aktiv entgegenzuwirken. Dazu trägt eine wachsende Erinnerungskultur in Herzogsägmühle bei, die in den kommenden Jahren weiter gestärkt werden soll. Hierdurch soll ein Raum für Dialog und Aufklärung geschaffen werden, der es Menschen ermöglicht, aus der Vergangenheit zu lernen und sich für eine gerechtere Zukunft einzusetzen. Geplant sind Gedenkfeiern, ein Gedenkbuch, weitere Biografien aufzuarbeiten, verschiedene Workshops, die sich sowohl mit der Vergangenheit, als auch mit der Gegenwart auseinandersetzen und ein Erzählcafé, dass die Möglichkeit zum Austausch bieten soll.
Das Projekt wird in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.
Aufruf an Interessierte:
Falls Sie sich wissenschaftlich, über ihre Arbeit, in ihrem ehrenamtlichen Engagement, persönlich oder privat von dem Projekt angesprochen fühlen, freuen wir uns von Ihnen zu hören.
Melden Sie sich bei uns unter: ns-unrecht@herzogsaegmuehle.de
Unser Projektteam besteht aus:
Babette Müller-Gräper (Historikerin M.A.) – Projektleitung
Fabian Leonhard (Historiker M.A.)
Corina Flaig (Erziehungwissenschaftlerin B.A.)
M. Magdalena Nunhöfer (Historikerin)
Das Bildungsprojekt am Lernort Herzogsägmühle – Stiftung EVZ
stiftung-evz.de
Aktuelles
Historische Bildung – Barcamp 2025: Verachtet – Verfolgt – Vergessen?
Die Opfer der NS-Gesundheitspolitik
Fachtagung mit Barcamp zur zeitgemäßen und nachhaltigen Bildungsarbeit
Termin: 28. November 2025
9 – 16 Uhr (Eintreffen ab 9 Uhr, Start um 10 Uhr)
Ort: Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt (Interimsbau) und digital
Darum geht’s:
Wie können wir ein würdiges Gedenken an die Opfer der NS-Gesundheitspolitik ermöglichen und wie kann gleichzeitig eine zeitgemäße Geschichtskultur mit Bezügen zu heutigen Problemen und Fragestellungen gelingen?
Mögliche Diskussionsfelder:
Digitale Vermittlungsarbeit, Gedenken, (Angriffe auf die) Erinnerungskultur, biografische Auseinandersetzung mit Tätern, pädagogische und künstlerische Zugänge, Strukturen der NS‑Fürsorgepolitik, Zugangsmöglichkeiten zum Thema etc.
Einladung zum offenen Arbeitstreffen: Gedenkfeier mitgestalten
Mittwoch, 17. September 2025, 16 – 18 Uhr
Ort: Seminarraum im Lernort, Werkstraße 2 in Herzogsägmühle
Lasst uns gemeinsam eine Gedenkfeier gestalten!
In einem offenen Treffen möchten wir gemeinsam Ideen sammeln für Beiträge zur Gedenkfeier für die Verfolgten der NS-Fürsorge- und Gesundheitspolitik in Herzogsägmühle in den Jahren 1934 –1945. Wir wünschen uns vielfältige Beiträge, die unterschiedliche Perspektiven auf die NS-Zeit und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart sichtbar machen. Jede*r ist willkommen – ob mit einer konkreten Idee im Gepäck oder einfach zum Zuhören und Inspirieren lassen.
Wer nicht persönlich dabei sein kann, aber gerne teilhaben möchte, meldet sich unverbindlich
per Mail: ns-unrecht@herzogsaegmuehle.de.
Lasst uns gemeinsam ein Zeichen gegen das Vergessen setzen – für eine Gesellschaft, in der die Würde jedes Menschen an erster Stelle steht.
Gegenwart trifft Geschichte: Führung am Lernort Herzogsägmühle während des Wohnungslosentreffens
Rund 65 wohnungslose und ehemals wohnungslose Menschen kamen in Herzogsägmühle zusammen, um gemeinsam über politische Forderungen, soziale Gerechtigkeit und persönliche Erfahrungen zu sprechen. Ein besonderer Programmpunkt: Die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte des Ortes am Lernort Herzogsägmühle – verbunden mit bewegenden Beiträgen von Teilnehmenden über Erinnerung, Teilhabe und die Bedeutung des Wohnens.
Seminartag an der Fachakademie für Sozialpädagogik der Diakonie Rummelsberg
Am 18. Juli 2025 fand im Rahmen des Bildungsprojekts ein Seminartag an der Fachakademie für Sozialpädagogik der Diakonie Rummelsberg statt. Unter dem Titel "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Sozialen Arbeit" befassten sich angehende Erzieher und Erzieherinnen mit den Verfolgungsschicksalen stigmatisierter Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus. Ziel war es, historische Verantwortung sichtbar zu machen und eine werteorientierte Haltung für die eigene berufliche Praxis zu entwickeln.
Erinnern – Verstehen – Vermitteln: Seminartage mit der Universität Augsburg im Rahmen des Gedenkstättenzertifikats
Im Rahmen des Gedenkstättenzertifikats der Universität Augsburg kooperiert der Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte mit dem Lernort Sozialdorf Herzogsägmühle, um neue Formen der Erinnerungskultur zu fördern. In einem mehrtägigen Seminar setzten sich Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen mit der NS-Gesundheitspolitik und der Geschichte Herzogsägmühles auseinander – sowohl theoretisch an der Uni als auch praktisch vor Ort. Besonders eindrücklich war die Arbeit mit historischen Originalakten, die eine kritische Auseinandersetzung mit ideologisch geprägten Quellen forderte. Im Mittelpunkt stand zudem das digitale Bildungsprojekt des Lernorts, das neue Wege der Vermittlung von Geschichte eröffnet und von den Teilnehmenden positiv bewertet wurde. Die Exkursion nach Herzogsägmühle machte deutlich, dass Erinnerungskultur ein lebendiger, oft auch herausfordernder Prozess ist, der Beteiligung und Offenheit verlangt.
Erinnern heißt Haltung zeigen: Rückblick auf den interaktiven Fachtag an der Katholischen Hochschule NRW in Münster
Am 21. Juni 2025 fand ein interaktiver Fachtag an der Katholischen Hochschule NRW im Rahmen des Bildungsprojekts statt. Unter dem Titel “Der Zentralwanderhof Herzogsägmühle – Ein Beispiel für Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Sozialen Arbeit während der NS-Zeit” widmeten sich Studierende der Sozialen Arbeit der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik und ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart– und sie beschäftigten sich mit der Frage, was das für ihr berufliches Selbstverständnis heute bedeutet.
Erste Durchführung des Blended Learning Seminars des Lernorts Sozialdorf Herzogsägmühle
Mitte Mai bis Mitte Juni 2025 hat das erste Blended Learning Seminar mit Studierenden der Sozialen Arbeit der Technischen Hochschule Augsburg stattgefunden. In mehreren digitalen Lerneinheiten und Präsenzveranstaltungen beschäftigten sich die Teilnehmenden mit der Geschichte der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, setzten sich mit der dahintersteckenden Ideologie auseinander und lernten verschiedene Biografien von Verfolgten und Tätern kennen.
Unser Medienpartner stellt sich vor: Digitale Lernwelten GmbH
Die Digitale Lernwelten GmbH aus Eichstätt ist eine Manufaktur für digitale Lernkonzepte und -inhalte. Unser transdisziplinäres Team bündelt dafür Expertise aus den Bereichen Didaktik, IT und Mediengestaltung. Kreativität und Pragmatismus sind unser Erfolgsrezept, um komplexe Themen greifbar zu machen. "Lernen" bedeutet für uns nicht die bloße Vermittlung von Wissen – Lernen ist eine zutiefst menschliche Aktivität, die unserer inhärenten Neugier folgt und nach Sinn und Struktur in unseren Erfahrungen und unserer Geschichte forscht. Ein solches Lernen ist die Grundlage für eine selbstbestimmte und verantwortungsvolle Mitgestaltung der eigenen Lebenswelt. Das ist unser Ziel.
Historisch-politische Bildung liegt uns besonders am Herzen, und wir sind stolz auf zahlreiche wegweisende Projekte, die wir auf diesem Gebiet bereits realisieren konnten.
Mit dem Projekt "Verachtet – Verfolgt – Vergessen: Die Opfer der NS-Gesundheitspolitik. Lernen für heute und morgen!" streben wir nun danach, einen Beitrag zur Wahrnehmung und Reflexion der individuellen Verantwortung in der Sozialen Arbeit zu leisten. In einer intuitiven und barrierearmen Lernumgebung können Lernende sich mit den Verbrechen des NS-Gesundheitssystems auseinandersetzen. Innovativer Einsatz von digitalen Technologien lässt dabei die Verfolgten dieses grausamen Systems ihre eigenen Geschichten erzählen und Lernende in neue Perspektiven schlüpfen. So geht Bildung im Zeitalter der Digitalität!
Interaktiver Fachtag "Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage"
Lernen für heute und morgen – Eine Veranstaltung im Rahmen des Projekts „Verachtet – Verfolgt – Vergessen: Die Opfer der NS-Gesundheitspolitik“
Montag, 31. März 2025, 8:30 – 16 Uhr
Herzogsägmühle, HEP-Schule
Wie prägt die Vergangenheit unsere Gesellschaft heute und welchen Einfluss hat sie auf meine zukünftige Arbeit? Im Rahmen des interaktiven Fachtags "Schule ohne Rassismus" blicken wir gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern der Fachschule Heilerziehungspflege und Heilerziehungspflegehilfe in Herzogsägmühle auf die Verfolgten der NS-Gesundheitspolitik. Im Laufe des Fachtages setzen wir uns mit Begrifflichkeiten, Biografien von Opfern und Tätern sozialrassistischer Verfolgung, sowie den Auswirkungen historischer Ereignisse auf den Beruf heutzutage auseinander.
Das Programm stärkt nicht nur das historisches Wissen, sondern fördert auch den Austausch miteinander, regt zur Selbstreflexion an und stärkt die tägliche Arbeit mit den Hilfeberechtigten heute und in Zukunft.
Erzählcafé im Frühling: Erinnern an die Verfolgten des Nationalsozialismus in Herzogsägmühle
Eine Veranstaltung im Rahmen des Projekts "Verachtet – Verfolgt – Vergessen: Die Opfer der NS-Gesundheitspolitik"
Freitag, 28. März 2025, 14 – 17 Uhr
Herzogsägmühle, genauer Ort wird noch bekannt gegeben
Im Rahmen eines Erzählcafés möchten wir gemeinsam mit Angehörigen von NS-Verfolgten über das Thema "Erinnern an die Verfolgten des Nationalsozialismus in Herzogsägmühle von 1933 bis in die Nachkriegszeit" sprechen. Nach einer kurzen historischen Einführung zur Geschichte von Herzogsägmühle und der Vorstellung einzelner Lebensgeschichten der Verfolgten, wird Raum gegeben für ein offenes Gespräch über die Biografien, Schweigen in der Familie, Stigmata und vieles mehr.
Wir möchten mit den Angehörigen der Verfolgten ins Gespräch kommen und laden alle Interessierten dazu ein, bei einer Tasse Tee oder Kaffee Fragen zu stellen, Gedanken zu teilen und sich mit den Erfahrungen der Betroffenen und ihren Familien auseinanderzusetzen. Ziel ist es, einen Raum für Austausch, Verständnis und das Gedenken an die Verfolgten zu schaffen. Es ist ein offenes Format, bei dem jede*r zu Wort kommen kann und das Kennenlernen im Mittelpunkt steht.
Es besteht die Möglichkeit, im Rahmen des Projekts an einer Schreib- und Geschichtswerkstatt teilzunehmen und sich über eine digitale Plattform auszutauschen.
Für die Teilnahme bitten wir um eine kurze Anmeldung unter:
ns-unrecht@herzogsaegmuehle.de
Das Projekt wird in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.
Auftrag der Stiftung EVZ ist es, die Erinnerung an das Unrecht der nationalsozialistischen Verfolgung lebendig zu halten, die daraus erwachsende Verantwortung im Hier und Heute anzunehmen und die Zukunft aktiv zu gestalten. Zentrales Motiv der Stiftungsgründung im Jahr 2000 war die Auszahlung humanitärer Ausgleichsleistungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen des NS-Regimes – ein Meilenstein der deutschen Aufarbeitung. Heute fördert die Stiftung über ihre Handlungsfelder Bilden und Handeln Projekte, die den Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung, der Völkerverständigung und der Stärkung von Menschenrechten dienen.